Welchen Einfluss unser Nervensystem auf unser Wohlbefinden haben kann – Interview mit Annika Cost

Im heutigen Interview sprechen wir mit unserer Physiotherapeutin Annika Cost darüber, welchen Einfluss unser Nervensystem auf unser allgemeines Wohlbefinden, aber evtl. auch auf die Endometriose haben kann und welche Rolle dabei der Vagusnerv spielt.

Dr. med. Nadine Rohloff: Ich bin heute hier wieder mit Annika, unserer Physiotherapeutin. Vielleicht stellst du dich nochmal kurz vor für die Leute, die unser letztes Interview nicht mitbekommen haben.

Annika Cost: Es ist ja jetzt auch schon über ein Jahr her, haben wir festgestellt. Es lohnt sich also nochmal. Ich bin Annika, ich bin Physiotherapeutin und habe eine Praxis in Frankfurt am Main und widme mich ausschließlich dem Thema Frauengesundheit. Mein Steckenpferd in diesem Thema Frauengesundheit ist tatsächlich die Endometriose bzw. die Behandlung von Betroffenen mit Endometriose. Das macht mir total viel Spaß und ich mache das mittlerweile wirklich viel und bin ja auch bei der App mit dabei und entwickle dort die Inhalte zum Thema Beckenboden und Physiotherapie. Und jetzt habe ich in den letzten paar Monaten mir viel Neues angeeignet. Ich bin so ein Wissensjunkie, glaube ich, und es gibt nie einen Moment, in dem ich nicht die nächsten drei Fortbildungen auch schon geplant habe.

Dr. med. Nadine Rohloff: Ich finde an der Stelle auch total wichtig, noch einmal zu erwähnen, dass Physiotherapie bei Endometriose auch wirklich seine Berechtigung hat, auch wenn das vielleicht häufig untergeht – bei Ärzten und Krankenkassen – darüber haben wir im ersten Podcast geredet, warum Physiotherapie relevant ist. An dieser Stelle auch noch mal, wer den ersten Teil noch nicht gehört hat, findet hier das Interview. Heute geht es aber um ein allgemeineres Thema. Worüber reden wir denn heute, Annika?

Annika Cost: Wir reden darüber, dass unser autonomes Nervensystem – ein Teil des Nervensystems, der alles Mögliche steuert, dessen wir uns nicht so bewusst sind, beispielsweise die Atmung, den Herzschlag, Blutdruck, Verdauung – also all das, was netterweise den ganzen lieben langen Tag für uns im Hintergrund läuft, in drei Teile bzw. drei Zustände unterteilt werden kann, und welchen Einfluss diese drei Zustände auf unser allgemeines Wohlbefinden und vielleicht auch auf die Endometriose haben und wie wir diese bewusst beeinflussen können. Das würde ich jetzt mal so als interessanten Aufhänger nehmen, denn ich glaube, so richtig viel versteht man darunter jetzt noch nicht, das heißt, man muss jetzt weiter zuhören, um auch da durchzusteigen.

Dr. med. Nadine Rohloff: Absolut. Das tritt es sehr gut. Es geht also um den Teil des Nervensystems, den man vielleicht im ersten Moment nicht so richtig bewusst steuert. Vielleicht magst du einmal kurz die Teile erklären – wie ist das so aufgebaut, wie funktioniert das?

Annika Cost: Eine ganz schöne Metapher ist eine Leiter: Wenn du dir eine ganz einfache, schlichte Leiter aus Holz mit ein paar Querstreben vorstellst und diese dann mal drittelst. Es gibt den oberen Teil, den mittleren und den untersten Teil. Dann könnte man diese drei Teile als die Zustände unseres Nervensystems beschreiben. Der oberste Teil ist der, in dem wir alle ganz gerne sind: Im Englischen gibt es dafür die zwei Schlagwörter Rest and Digest – also man fühlt sich wohl. Ich stelle mir immer jemanden vor, der am Lagerfeuer sitzt, was Nettes zu essen hat, vielleicht ein paar Freunde mit dabei… also es geht einem gut, man entspannt, man hat Zeit zum Verdauen, man genießt das Leben. Dann gibt es den mittleren Teil: Das ist eher ein sympathischer Zustand, das ist mehr so Fight and Flight. Mein klassischer Fight und Flight Moment ist, wenn ich morgens mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre und in der Frankfurter Innenstadt kannst du dir sicher sein, dass ich irgendwo von irgendeinem Autofahrer geschnitten werde. Das bringt mich relativ schnell auf die Palme. Ich gebe das ganz offen und ehrlich zu! Da ist aber an sich aber natürlich super, dass ich dann eben in einem gestressten Zustand bin, denn dadurch habe ich nämlich eine bessere Reaktionszeit. Das heißt, ich kann schneller ausweichen, ich kann schneller bremsen und wenn es hart auf hart kommt, rettet mir das vielleicht das Leben. Das heißt, da habe ich so einen Stressmoment und auch mein Nervensystem passt sich daran an und kurzzeitig ist es auch total sinnvoll, wenn man evolutionsbiologisch ein paar Jahrtausende zurückgeht, dann war das der Moment, wo ich vor einem Löwen wegrenne oder mir überlege, ob ich mit dem Löwen jetzt kämpfen möchte. Das ist also der mittlere Zustand. Wenn wir die Leiter jetzt ganz runterklettern an das unterste Ende und bleiben noch ganz kurz vor ein paar Jahrtausenden, dann wäre das der Moment, in dem ich sage: Kämpfen oder Rennen macht hier beides keinen Sinn, ich stelle mich tot! Das ist so ein „Shutdown“ oder „Lockdown“, so ein Zustand, von dem man in der heutigen Zeit sagen würde, vielleicht hast du mal ein traumatisches Erlebnis gehabt und du bist eher apathisch, liegst vielleicht viel im Bett, kommst nicht mehr so richtig raus. Das wäre der dritte, unterste Zustand. Und auch der kann natürlich für eine kürzere Zeit absolut seine Daseinsberechtigung haben. Wenn man jetzt etwas sehr, sehr schlimmes erlebt hat, ist es vielleicht gut, wenn dieses Erlebnis nicht total auf einen einprasselt, sondern man erstmal erst kurz „runterfährt“, um das Ganze verarbeiten zu können.

Dr. med. Nadine Rohloff: Also das heißt, all diese Zustände haben sozusagen ihren Grund. Auch Stress ist nicht nur schlecht, wie du es schon gesagt hast, sondern ist in gewissen Situationen – wenn wir halt etwas leisten müssen, wie z. B. schnell wegfahren vom Auto – total sinnvoll. Im Prinzip ist es im gesunden Zustand wichtig, dass man wechseln kann. Keiner kann sozusagen sein ganzes Leben am Lagerfeuer sitzen, aber man kann auch nicht den ganzen Tag gestresst vom Auto wegfahren – irgendwann muss man wieder wechseln. Das fällt aber manchen schwer oder häufig, glaube ich, schwer, gerade jetzt zwischen den oberen beiden Teilen, weil der untere natürlich noch mal ein paar Besonderheiten hat.

Annika Cost: Ich muss auch sagen, seit ich mir dessen mehr bewusst bin, versuche ich sehr viel mehr eine bewusste Entscheidung daraus zu machen. Ich kann mich daran erinnern, dass ich früher auch mal abends nach Hause gekommen bin und meinem Mann dann noch vom Autofahrer von morgens um 8 Uhr erzählt habe und mich das immer noch wütend gemacht hat. Jetzt sage ich, an sich ist die Wut vielleicht berechtigt, weil ich einfach denke, es kann halt Leben kosten bei dieser Fahrweise, aber es bringt mich in meinem persönlichen Weg natürlich überhaupt nicht weiter, wenn ich mich dann noch 12 Stunden darüber aufrege, es den ganzen Tag in meinem Hinterkopf läuft und mir es am Ende des Tages nur noch schlecht geht. Vor allem, wenn Gott sei Dank in der Situation gar nichts Ernsthaftes passiert ist. Das heißt, ich bin total dankbar, dass mein Körper mich in der Akutsituation schützt und mir die bestmögliche Reaktion ermöglicht. Aber ich bin auch froh, wenn die Situation vorbei ist und die akute Gefahr vorbei ist, dass ich dann die Möglichkeit habe, zu sagen: Dreimal tief durchatmen und möglichst schnell auf der Leiter wieder nach oben klettern! Der Trick ist wirklich, sich eine Flexibilität zu erarbeiten, dass man sehr flink und schnell und ohne großen Aufwand hoch- und runterkommt – immer so, wie es der Situation nach gerade angemessen ist. 

Dr. med. Nadine Rohloff: Da findet man ja auch viele Beispiele: Man hat beispielsweise einen Vortrag gehalten und in dem Moment ist es in Ordnung, dass man gestresst ist, weil es einem wichtig ist, aber man sollte ja nicht drei Monate vorher deswegen gestresst sein. Dann kommt ja nicht zur Ruhe und hält den Vortrag vielleicht schlechter. Oder man hat sich geärgert über einen Streit oder hatte Angst, weil man auf einem hohen Gebäude stand. Aber danach sollte man wieder in seinen entspannten Zustand zurückkommen. Das klingt ja immer so einfach.

Annika Cost: Schön, wenn das auch so wäre. Während ich hier ganz gemütlich auf dem Sofa sitze und sage: Das geht immer und ist easy … natürlich nicht. Ich habe durchaus meine Momente – das gebe ich ganz ehrlich zu – da fällt einem das total schwer, schnell wieder runterzukommen. Da braucht es einfach einen Moment. Im Nachhinein fragt man sich dann, war es das denn wirklich all den Stress und Ärger wert?! Aber es funktioniert nicht immer. Ich denke, das ist ein Thema, bei dem jeder von uns besser werden kann – es ist aber auch nichts, wobei man sich stressen muss; solche Fähigkeiten dürfen ja mit der Zeit wachsen.

Dr. med. Nadine Rohloff: Bevor wir jetzt zu den Möglichkeiten kommen, was man machen kann, kannst du vielleicht auch aus physiotherapeutischer Sicht erzählen, was so ein Zustand sonst noch mit dem Körper macht? Also, wenn man jetzt länger als nötig in dieser Stresssituation bleibt.

Annika Cost: Grundsätzlich kann man auf den Körper bezogen sagen, es ist so ein bisschen, als würde man seinen Körper überlasten. Dieser sympathische (mittlere) Zustand ist wirklich dafür gedacht, kurzfristig sehr viel Energie bereitzustellen, kurzfristig die Aufmerksamkeit entweder sehr breit zu streuen, um zu gucken, woher kommt die Gefahr, oder sehr fokussiert auf die Gefahr, wenn sie schon klar zu sehen ist, zu richten. Für eine kurze Zeit können wir das leisten, dafür haben wir die Ressourcen. Aber wenn wir das längerfristiger machen, leben wir über unseren Ressourcen. Wir verbrauchen mehr, als wir haben. Das kann zu allen möglichen Problemen führen. Wenn wir jetzt einmal über sehr langfristige – jahrzehntelange – Probleme reden, steigt das Risiko für Schlaganfälle, Herzinfarkte, alles was das Herz-Kreislauf-System betrifft, Arteriosklerose – also wenn die Zellen ein bisschen verkalken. Dies ist ein Faktor, der eine Rolle spielt, selbstverständlich nicht der Einzige, aber das ist einfach eine Sache, die beschleunigt wird, wenn man es wollen würde. Auf physiotherapeutischer Ebene ist es ganz viel Muskelspannung. In diesem sympathischen Zustand hat man eine viel höhere Muskelspannung. Das ist auch gut so, denn bei Fight oder Flight muss ich entweder rennen – dafür brauche ich Muskeln – oder Kämpfen – dafür brauche ich auch Muskeln. Und wenn diese dann eine gewisse Verspannung haben, sind die einfach effizienter im Einsatz. Das heißt, an sich ist das für die Akutsituation super, aber auf Dauer kann beispielsweise natürlich eine erhöhte Muskelspannung zu Schmerzen oder zu Bewegungseinschränkungen führen – also auch viele Symptome, die mit Endometriose verbunden sind. Außerdem ist es so, dass man in diesem mittleren Zustand auch schmerzempfindlicher ist. Die Schwelle, welche Berührung Schmerzen auslöst, ist nach unten gesetzt. Auf der anderen Seite wird so die Muskelanspannung nach oben gefahren, das heißt, man steckt dann auch ein bisschen in einem Teufelskreis.

Dr. med. Nadine Rohloff: Das ist dann natürlich auch total blöd, wenn man z.B. Beckenbodenverspannungen bei der Endometriose hat, dass diese dann nochmal verschlimmert werden bzw. andersherum kann man sich etwas Gutes tun, wenn man ab und an wieder aus diesem Zustand rauskommt. Das heißt jetzt nicht, dass, wenn man mal eine stressige halbe Stunde hat, sich dies schlimm auf den Beckenboden auswirkt. Da wollen wir ja niemandem Angst machen.

Annika Cost: Nein, das auf gar keinen Fall! Und, wie gesagt, alle Zustände haben ihre Berechtigung, alle sind gut, keiner ist schlecht. Es geht wirklich darum, die Balance zu haben und zwischen den Zuständen wechseln zu können. Nicht darum, einen davon zu verteufeln. Und wir reden da gerade über diese schwerwiegenden Sachen, wie ich eben angesprochen habe, davon jahrzehntelang in solchen Zuständen zu verweilen. Wenn man da zu sehr klischeehaft an die Sache rangeht, denken die meisten wahrscheinlich an irgendwelche sehr erfolgreichen Manager, die sich seit Jahren die Nächte um die Ohren hauen, 80 Stunden arbeiten, wenig Sozialleben haben, sich suboptimal ernähren, wenig bewegen, weil dafür keine Zeit ist, und den Schlaf, den sie haben, ist dann vielleicht nicht einmal von der Qualität so gut. Wenn man das jetzt jahrelang macht, kann man sagen, dass auch schwerwiegendere gesundheitliche Folgen möglich sind. Aber von „Ich bin jetzt mal eine Woche gestresst“ passiert da Gott sei Dank so schnell nichts, und ich glaube, in unserer Gesellschaft hätten wir uns auch schon ausgerottet, wenn dem so wäre.

Dr. med. Nadine Rohloff: Aber trotzdem ist es natürlich so, dass man es gut einsetzen muss, gerade auch wenn Muskelspannung in anderen Bereichen weh tut. Was ich auch ganz spannend finde, ist tatsächlich, dass auch Stress ein Einfluss auf Entzündungen hat – also auch das Immunsystem und Entzündungsmechanismen anders reagiert. Das ist ja auch langfristig relevant ist. Aber man kann sich ja auch mittelfristig etwas Gutes tun, wenn man übt, wieder in die Entspannung zu kommen.

Annika Cost: Absolut. Und gerade die Entzündungen sind ja auch bei Endometriose super relevant! Auf die Endometrioseherde und -entzündungen müssen wir wahrscheinlich gar nicht so eingehen, aber da hat man einen sehr direkten Einflussfaktor eben auch auf endometriose-spezifische Beschwerden und Problematiken. Auf der anderen Seite muss man sagen, so eine chronische Erkrankung ist natürlich leider ein Faktor, der einen auch relativ schnell in so einen sympathischen Tiefstand bringen kann. Da ist ja sehr viel Stress mit verbunden – gerade mit Endometriose, wo auch gesellschaftlich ganz viel Verständnis fehlt, wo die Arbeit oft eingeschränkt ist, aber einfach auch das Verständnis vom Arbeitgeber oder von Kolleginnen und Kollegen vielleicht nicht da ist, auch nicht der familiäre Rückhalt. Einfach diese andauernden Schmerzen und all das sind einfach Faktoren, die einen leider auch schneller darein bringen. Insofern muss man realistisch bleiben und gucken, dass man eine Balance findet, und sich nicht direkt vornimmt, ich werde nie wieder Stress haben – das kann gar nicht das Ziel sein – sondern vielleicht einfach: „Kann ich ein kleines bisschen flexibler werden und ein ganz kleines bisschen schneller aus dieser Situation wieder rauskommen“. Vielleicht sich einfach nur ein bisschen bewusster für den Anfang über die Situation zu sein – alleine das hat zumindest bei mir und auch bei vielen meiner Patientinnen schon geholfen, sich dessen einfach mal nur bewusst zu sein, ohne sich direkt vorzunehmen, alles zu verändern.

Dr. med. Nadine Rohloff: Absolut! Jetzt haben wir ja schon gesagt, dass man in diesem Fight and Flight Modus ist, hat man mehr Schmerzempfinden, mehr Muskelverspannung, mehr Entzündungen. Welche Methoden gibt es, wenn ich merke, ich bin total gestresst, um wieder ein bisschen in die Entspannung reinzukommen. Vielleicht mal abgesehen von den klassischen Entspannungsmethoden, die man sozusagen im Kopf hat.

Annika Cost: Ein Trick, den ich gerne mag, wenn man wirklich gerade so gar keine Ahnung hat, ist tatsächlich mal fünf Minuten an die frische Luft zu gehen und sich zu bewegen. Das ist ja das, was man eigentlich will: Man will in Bewegung kommen, man will sich auf dieser Leiter nach oben bewegen. Das kann man tatsächlich 1:1 übersetzen und fragen, wie kann ich in Bewegung kommen. Was ist der kleinste Schritt, den ich mir in der Situation zutraue? Und Bewegung hilft da tatsächlich. Wirklich nur einmal um den Blick gehen; man muss nicht direkt etwas Riesiges daraus machen. Einmal fünf Minuten um den Block gehen. Das ist so ein ganz schneller und einfach Schritt, für den man keine Materialien oder irgendwas braucht. Und dann ist es so, dass ich therapeutisch da ganz viele verschiedene Techniken anwende. Ein sehr wichtiger Nerv in diesem Ganzen ist der zehnte Hirnnerv. Das ist der Vagusnerv und spielt bei diesen drei Zuständen an verschiedenen Stellen eine Rolle, aber er ist eben auch an dieser obersten Stelle mitbeteiligt, wo wir in der Regel ja hinwollen oder schneller wieder hinzurück wollen. Den kann man mit verschiedenen manualtherapeutischen Techniken aktivieren, stimulieren, das heißt, ich mache ganz viel mit den Ohren. Der Vargusnerv reagiert sehr gut auf Vibrationen: Ich habe tatsächlich so eine Art Vibrationsstift in meiner Praxis. Das Vibrieren am Innenohr finden die meisten im ersten Moment sehr ungewohnt, aber dann doch sehr, sehr wohltuend. Ich liebe es selbst auch, ich benutze den in den Pausen auch immer mal wieder, weil das wirklich sehr angenehm ist. Wer jetzt mal direkt etwas ausprobieren will, kann mal beide Ohren in die Hand nehmen und die Ohrläppchen nach unten ziehen und dann weg vom Kopf nach außen ziehen. Dann kann man daraus mal eine flüssige Bewegung werden lassen: Nach unten und nach außen ziehen. Dann macht man wie einen kleinen Kreis und das kann man fünf- bis sechsmal ungefähr wiederholen; keine Schmerzen dabei bitte zufügen! Und je nachdem, wie viele und wie große Ohrringe man anhat, muss man diese erst kurz ausziehen, sonst funktioniert das nicht so gut. Aber das fühlt sich für viele sehr angenehm an. Oder auch mal hinterm Ohr so lang zu streichen. Das ist auch für viele super angenehm, auch jetzt gerade in der aktuellen Phase mit den Masken, die wir den ganzen Tag tragen, ist auch total viel Spannung drin. Das sind Möglichkeiten, Tipps und Tricks, die im Alltag sehr schnell umzusetzen sind oder beispielsweise wenn wir beim Thema Vibration sind, kann man auch mal summen. Summen führt ja zu einer Vibration im gesamten Brustkorb, weil der Kehlkopf mit beteiligt ist und eben auch dort Nervenfasern entlang laufen, die den Vargusnerv wieder stimulieren. Das sind Kleinigkeiten aus meiner Praxis, die ich jetzt mitgeben kann. Vieles ist tatsächlich an meine Hände gebunden – man kann es also nicht 1:1 übersetzen. Aber das sind Tipps, die man auch mit nach Hause nehmen kann.

Dr. med. Nadine Rohloff: Spannend! Gibt es beim Summen eine besondere Tonhöhe oder ist das ganz egal? Kann man das machen, wie man will?

Annika Cost: Grundsätzlich kann man erstmal machen, was man will. Wenn überhaupt summt, ist es schon mal besser, als wenn man nicht summt. Das will ich gar nicht unnötig verkomplizieren. Einfach drauflos summen. Wenn ich in der Praxis sage: „Hey, summ doch mal“ – ich kombiniere das nämlich auch manchmal damit, wenn ich am Beckenboden arbeite beispielsweise, dass ich gleichzeitig überlege, wie schaffe ich das jetzt in Kombination, die Muskulatur am gesamten Körper zu entspannen. Das heißt, ich gebe dann manchmal meinen Patientinnen die Aufgabe, sie sollen mir doch mal was vorsummen. Ich muss dann eigentlich immer mitsummen, weil die meisten erstmal so ein bisschen gehemmt sind, vor mir zu summen, wenn ich nicht auch summe. Ich summe dann, ehrlich gesagt, erstmal „Alle meine Entchen“ – das kennt jeder, das kann jeder, da muss man nicht so viel drüber nachdenken. Aber grundsätzlich würde ich sagen, man sollte im mittleren Tonbereich summen, nicht super tief, definitiv aber auch nicht super hoch – sondern eher „untere Mitte“. Aber wie gesagt, wer damit nichts anfangen kann: Summ mal drauf los, fühle mal in dich rein, was sich gut für dich anfühlt. Da will ich keine Wissenschaft draus machen. Das ist bestimmt auch für zwei Personen nicht exakt die gleiche Tonhöhe, die da angenehm ist. Es geht ja darum, selber in die Entspannung zu kommen. Da ist man frei.

Dr. med. Nadine Rohloff: Es gibt ja auch Yoga-Übungen, bei denen man beim Ausatmen einen Summton macht.

Annika Cost: Man kann aber über akustische Reize auch ganz viel machen. Da bin ich in meiner Praxis noch gar nicht so aktiv, aber das kommt mir jetzt gerade noch ganz spontan. Es ist nämlich so, dass die Muskeln im Mittelohr verschiedene Spannungszustände einnehmen können. Und wenn ich in meinem sympathischen Stresszustand bin – und wir gehen jetzt mal wieder ein paar Millionen Jahre zurück – und ich bin in einer Gefahrensituation, jetzt geht es tatsächlich eher wieder um Leben und Tod und ich muss darauf achten, dass ich nicht gefressen oder verfolgt werden. Dann ist es vor allem wichtig, dass ich ganz hohe und ganz tiefe Töne wahrnehmen kann, weil das in der Regel Gefahr bedeutet: Hohe Schreie, ein tiefes Brummen von einem Bären. Da ist das Ohr dann drauf ausgerichtet, eher die ganz hohen und tiefen Töne besonders gut wahrzunehmen, diese mittleren Töne aber nicht so sehr. Viele meiner Patientinnen – und mich eingeschlossen – kennen es zusammengefasst unter dem Begriff „auditive Hypersensibilität“ – um dem Ganzen auch noch mal einen schönen Namen zu geben. Ich kenne das beispielsweise, wenn man im Restaurant sitzt, eigentlich will man entspannt mit Freunden etwas essen und ich höre sehr laut Geklirre und Geschirr aus der Küche, selbst wenn ich gar nicht neben der Küche sitze. Das stört mich dann auch aktiv. Oder wenn ich nach Hause komme und der Tag sehr anstrengend und stressig war, kann ich nicht jede Form von Musik ertragen. Je nachdem, was mein Mann dann gerade Zuhause hört, findet das ein sehr abruptes Ende – nicht immer ganz zu seiner Begeisterung verständlicherweise. Weil, wenn man den ganzen Tag hohe und tiefe Töne besonders wahrnimmt, die aber ja Gott sei Dank in unserer Welt nicht mehr wirklich lebensbedrohlich sind, stresst einen das noch umso mehr. Und jetzt gibt es von Steven Porges, der diese Dreistufigkeit auch ein bisschen entdeckt hat, ein Musikprotokoll – ich bin gerade dabei, mich einzuarbeiten, das biete ich dann vielleicht in der Zukunft an. In diesem Musikprotokoll nimmt er Lieder, die wir alle kennen, und die hohen und tiefen Töne durch einen Algorithmus laufen lässt und diese am Computer rausfiltern lässt. Das heißt, die Lieder hören sich danach komisch an, aber stellen unser Ohr wieder darauf ein, sich auf diese mittleren Töne zu konzentrieren. Mittlere Töne sind das, was du und ich gerade machen – einfach so eine nette entspannte Unterhaltung; wir schreien uns nicht an, wir quietschen jetzt auch nicht besonders, ich hoffe, wir fühlen uns beide sicher und wohl in der Unterhaltung. Man konzentriert sich also wieder mehr auf die mittleren Töne und auch das kann beispielsweise einen sehr positiven Einfluss auf diese Balance haben.

Dr. med. Nadine Rohloff: Gibt es da ein Lied, das vielleicht viele mittlere Töne hat?

Annika Cost: Das konnte ich jetzt noch nicht rausfinden. Ich hatte neulich ein Gespräch mit einer von dieser Gruppe und sie sagen, sie geben keine Einzelstücke raus, weil man es eben schon auch gerade am Anfang unbedingt in Begleitung von einer ausgebildeten Therapeutin oder Therapeuten machen sollte, weil es eben auch am Anfang einfach mal zu Abwehrreaktionen kommen kann.Und sie sagen, man soll damit nicht unbedingt alleine sein. Ich habe überlegt, ob ich das nicht einfach mal selber ausprobiere, und dann kann ich davon nochmal im Detail berichten. Ich finde es einfach spannend, weil diese Geräuschempfindlichkeit viele aus dem Alltag kennen.

Dr. med. Nadine Rohloff: Dann kann man es vielleicht auch ein bisschen einordnen, um ein bisschen nett zu sich selber sein und einfach die Musik, die man gerade nicht hören mag, ausschalten. Der Vargusnerv, der viele von diesen Nervenfasern führt, die sozusagen einen mehr in die Entspannung bringen, ist ja auch ein bisschen temperatursensibel. Gibt es da etwas, was man nutzen kann?

Annika Cost: Ja, also was funktioniert, ist das Gesicht kalt zu waschen, wobei das gar nicht über den Nerv direkt geht, sondern über einen Nachbarnerv, aber Nachbarn beeinflussen sich einfach öfters mal gegenseitig. Ich fand es witzig, als ich herausgefunden habe, wie viel von diesen Sachen wir intuitiv schon machen. Also, wenn man gestresst ist, einfach mal ins Badezimmer zu gehen und mal das Gesicht kalt abzuwaschen, ist ja gar nichts, was so unüblich ist. Es machen ja viele, um kurz diesen Moment vom Runterkommen zu haben. Und ich fand es ganz spannend, als ich diese wissenschaftliche Erklärung dafür entdeckt habe, warum das funktioniert oder uns guttut. Was ich meinen Patientinnen oft empfehle, aber was ich gerade tatsächlich zum ersten Mal aus dieser Perspektive betrachte, ist die kalte Waschung am Bauch am Morgen. Wenn du am Morgen aufwachst, du liegst in deinem Bett und es ist schön warm und kuschelig, dann stehe mal auf, lass die Bettdecke unbedingt zugeklappt, sodass es auch warm und kuschelig bleibt, laufe kurz ins Bad, nimm den Waschlappen und wasche kühl deinen Bauch ab. Es muss nicht eiskalt sein, du sollst dir damit nicht weh tun. Es kann sehr empfindlich sein, gerade wenn man aus dem warmen Bett kommt. Dann gehe aber wieder zurück – das heißt, du hast so ein warm-kalt-warm, was natürlich die Durchblutung anregt. Und da der Vagusnerv fast alle unserer Verdauungsorgane nervlich mitverfolgt, regt es natürlich auch den Vagusnerv an. Ich habe das bisher eher aus lokal-muskulärer Sicht betrachtet. Die vermehrte Durchblutung im Bauchraum sorgt eben auch dafür, dass Faszien und Muskeln sich entspannen. Aber es hat definitiv auch den Effekt, dass der Vagusnerv stimuliert wird und eben noch im ganzen Körper eine Entspannung stattfindet. 

Dr. med. Nadine Rohloff: Spannend! Das probiere ich morgen mal aus!

Annika Cost: Mach das. Es ist eine kurze Überwindung, aber dann doch sehr angenehm.

Dr. med. Nadine Rohloff: Das heißt, wir haben hier jetzt ganz viele Sachen, die man auch mal eben machen kann: Summen – aber wenn man vielleicht nicht alleine ist oder bei der Prüfung – dann das mit den Ohren. Es gibt also viele Möglichkeiten und man muss wahrscheinlich für sich ein bisschen ausprobieren, was am besten funktioniert.

Annika Cost: Absolut. Es gibt nie die eine Wunderpille, die bei allen funktioniert. Ich suche die seit Langem, habe sie bisher nicht gefunden. Ich glaube mittlerweile auch nicht mehr daran, dass es sie gibt. Aber wenn die jemand gefunden hat, ruf mich an! Ich hätte die auch gerne! Nein, man muss wirklich sagen – wie bei allen anderen Sachen auch – man sollte es für sich ausprobieren. Für den einen ist die eine Methode besser und es ist ja auch super, dass wir da so eine große Auswahl haben. Da findet wahrscheinlich jede irgendwas, wo sie sagt: Hey, das tut mir irgendwie gut, das fühlt sich schön an.

Dr. med. Nadine Rohloff: Vielen Dank! An alle, die gerade zugehört haben, stellt gerne eure Frage oder hinterlasst einen Kommentar. Diese beantworten wir dann später auch. Ach ja, du hast ja in letzter Zeit auch ganz viele Kurse gemacht. Gibt es irgendetwas, was du in der nächsten Zeit noch machst, wo man sich noch anmelden kann, wenn man gerade nicht in Frankfurt wohnt? Also, Annikas Praxis ist ja in Frankfurt.

Annika Cost: Es gibt tatsächlich eine Sache schon mit konkretem Datum: Am ersten Aprilwochenende mache ich einen zweiteiligen Workshop mit einer Zyklusberaterin. Da geht es darum, wie ich meinen Zyklus besser kennenlernen, wie kann ich teilweise auch – spezifisch auf den Beckenboden bezogen, aber auch auf meine Lebensgewohnheiten, meine Ernährung, meine Bewegung – dies alles an meinen Zyklus anpassen, damit ich da einfach meine Energie optimal nutze. Wir leben in einer Welt, die eher auf Männer ausgelegt ist, also von der Männer mehr profitieren, die einen relativ gleiches Energielevel und Hormonhaushalt haben. Und wir Frauen haben eben einen sehr stark schwankenden Zyklus. Das muss aber überhaupt nichts Schlechtes sein, wir müssen uns dessen auch nur wieder bewusst sein. Dann können wir nochmal schauen, wie wir dies für uns nutzen können, und kann an anderen Tagen umso mehr machen. Auf dieses Thema werden wir einfach nochmal ein bisschen drauf eingehen, das ist sonst zu viel für einen Tag. Also machen wir es Samstag- und Sonntagvormittag jeweils zwei bis drei Stunden. Da gibt es auch zeitnah neue Infos von mir auf Instagram, auch auf meiner Webseite. Wir sind jetzt in den Endzügen und dann veröffentlichen wir das auch. 

Dr. med. Nadine Rohloff: Sehr gut! Und wenn man sich sonst noch dafür interessiert, was bei dir so passiert, kann man dir ja auch auf Instagram folgen.

Annika Cost: Absolut. Es wird auf jeden Fall dieses Jahr nochmal einen Kurs für chronische Schmerzen geben, einen Selbstlernkurs im eigenen Tempo. Aber das ist noch alles zu unkonkret. Dazu erzähle ich dann mal mehr. Aber jetzt erstmal das erste Aprilwochenende merken!

Dr. med. Nadine Rohloff: Sehr gut! Nochmal Danke! Und bis zum nächsten Mal!

Annika Cost: Vielen Dank, dass ich da sein durfte! Bis zum nächsten Mal!

Die Ergebnisse unserer Symptomumfrage sind veröffentlicht!

Schaue in unseren Symptom Explorer und erfahre, welche Ursachen deine Beschwerden haben, ob und wie sie mit anderen Symptomen zusammenhängen und welche Hilfsmittel Linderung verschaffen können.

Weitere Infos zur Physiotherapie bei Endometriose findest du übrigens in unserem Symptom Explorer.

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