Retrograde Menstruation als Ursache für Endometriose?

Wie du schon weißt, gibt es bei der Endometriose Gebärmutterschleimhaut-ähnliche Zellen, die sich an Orten im Körper befinden, wo sie nicht hingehören. Die Ursache hierfür ist bislang unklar, jedoch haben sich zwei Theorien durchgesetzt: Der ersten Theorie zufolge wandeln sich einige Zellen im Bauchraum durch einen unbekannten Mechanismus in Gebärmutterschleimhaut um. Die andere Theorie besagt, dass sich Gebärmutterzellen während der Menstruation ablösen und mit dem Blut durch die geöffneten Eileiter in die Bauchhöhle gelangen können. [1] Diese Theorie würde die Existenz von Herden im Bauchraum erklären, und bei manchen Frauen* könnte dies dazu führen, dass eine Endometriose entsteht.

Retrograde Menstruation – was bedeutet das?

Den normalen Weg des Menstruationsblutes kennst du sicher – die Gebärmutterschleimhaut wird aufgrund des Einflusses der Hormone Östrogen und Progesteron abgestoßen und das daraus entstehende Blut bahnt sich seinen Weg durch die Scheide. Eine Untersuchung der physiologisch vorkommenden Flüssigkeit im Bauchraum hat ergeben, dass sich darin bei circa 90% aller Frauen* mit regulären, durchlässigen Eileitern Blut befindet, sodass angenommen werden kann, dass das Eintreten von Menstruationsblut in den Bauchraum grundsätzlich normal ist. Bei Frauen* mit verschlossenen Eileitern hingegen konnte nur bei 15% der Personen Blut im Bauchraum nachgewiesen werden. [2] In den meisten Fällen verursacht das Blut mitsamt den enthaltenen Zellen keine Probleme und wird ganz normal vom Körper abgebaut. Es kann jedoch passieren, dass die Gebärmutterzellen sich im Bauchraum einnisten und eine Endometriose entsteht. [3]

Warum dies nur bei einigen Personen vorkommt und nicht bei allen fruchtbaren Menstruierenden, ist bislang ungeklärt. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass an Endometriose Leidende erwiesenermaßen eine herabgesetzte Funktion der natürlichen Killerzellen und Makrophagen aufweisen. [4] In einer aktuellen Studie hat man durch den Vergleich der Flüssigkeit im Bauchraum (Peritonealflüssigkeit) von an Endometriose Erkrankten und von gesunden Personen herausgefunden, dass die natürlichen Killerzellen bei Endometriose deutlich weniger aktiv waren als es normal wäre. Zwar war die Aktivität der Immunzellen während der Menstruation bei beiden Gruppen merklich vermindert, jedoch erhöhte sie sich in der gesunden Gruppe nach der Menstruation signifikant, blieb bei den Erkrankten jedoch weiterhin deutlich geringer. Da die natürlichen Killerzellen und Makrophagen wichtige Bestandteile des Immunsystems sind, kann eine unzureichende Funktion dazu führen, dass sich im Menstruationsblut befindliche Antigene – also Substanzen, die eine Immunreaktion auslösen – nicht erkannt und bekämpft werden können.

Interessant ist, dass die Funktionseinschränkung nur im Bauchraum gefunden wurde, nicht jedoch in anderen Körperregionen. Für diese Hypothese spricht, dass die Endometriose häufig zusammen mit anderen Erkrankungen auftritt, die aufgrund einer Dysfunktion des Immunsystems auftreten. Beispiele dafür sind die Hashimoto-Thyreoditis (chronische Entzündung der Schilddrüse) und verschiedene chronisch-entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa. [5] Die Begleiterkrankungen können sowohl bereits zur gleichen Zeit wie die Endometriose vorhanden sein als auch im Verlauf der Erkrankung auftreten, sodass es schwierig ist, zu unterscheiden, welche Leiden durch die Endometriose ausgelöst wurden und welche unabhängig davon aufgetreten sind. Letztlich kann die verminderte Aktivität der Immunzellen eine Erklärung für die Einnistung der Fremdzellen sein, das ist jedoch bisher noch nicht bewiesen worden.

Wie entstand die Theorie zur retrograden Menstruation?

Die Theorie der retrograden Menstruation ist nicht neu, sondern wurde bereits 1927 von dem amerikanischen Gynäkologen Dr. John Sampson aufgestellt. Damals war die Endometriose als Krankheit zwar schon bekannt, allerdings gab es vor seiner Forschung nur wenige Erkenntnisse. Er lieferte erstmalig eine anatomisch plausible Erklärung für die Entstehung der Erkrankung. [9]

Über die Jahre hinweg wurde die Theorie der retrograden Menstruation weiter erforscht und Sampsons Ergebnisse konnten reproduziert werden. Eine Studie aus dem Jahr 1995 konnte herausstellen, dass eine gezielte Injektion von Endometriumzellen in den Bauchraum mit dem Ziel, eine Endometriose auszulösen, meist erfolgreich zu sein scheint. [10] Endometriumzellen aus verschiedenen Stadien des Menstruationszyklus wurden in den Bauchraum von Pavianen injiziert. Es wurden Zellen aus der Menstruationsphase und Lutealphase (nach dem Eisprung) jeweils außerhalb des Bauchfells und Zellen aus der Menstruationsphase innerhalb des Bauchfells eingebracht. Nach zwei, fünf und zwölf Monaten wurden Laparoskopien durchgeführt, um eventuelle Veränderungen zu erkennen. Das Ergebnis stützt die Hypothese: Das Vorkommen der für Endometriose typischen Gewebeläsionen war wesentlich höher bei den Primaten, welche Zellen aus der Menstruationsphase in das Bauchfell injiziert bekommen hatten. Auch war die Injektion der Zellen in das Bauchfell deutlich erfolgreicher darin, Endometrioseherde zu verursachen als die Injektion außerhalb des Bauchfells. Keine nennenswerten Veränderungen konnten bei den Primaten festgestellt werden, welche eine Injektion von Zellen aus der Lutealphase außerhalb des Bauchfells erhielten. Interessant war auch, dass eine Kontrolluntersuchung mittels Laparoskopie nach zwölf Monaten zeigte, dass die neu aufgetretene Endometriose weiter fortgeschritten war. In einem Primaten, welcher in der Zwischenzeit keine weitere Menstruation hatte, war die Endometriose rückläufig. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Endometriose nur dann ausgelöst werden konnte, wenn die injizierten Zellen während der Menstruationsphase entnommen worden waren, nicht aber in anderen Phasen des Zyklus – ein Indiz dafür, dass die retrograde Menstruation, wie bereits angenommen, eine Rolle bei der Entstehung der Endometriose spielt.

Endometriose durch verstärkte Muskelaktivität?

Eine weitere Theorie besagt, dass es an der Grenze zwischen den Schichten des Endometriums aufgrund von gesteigerter Muskelaktivität zu Mikroverletzungen kommen kann, welche einen Reparaturmechanismus in Gang setzen. [6] Dies führt zu einer lokalen Produktion von Östrogen, welches wiederum für das Aufrechterhalten der gesteigerten Muskelaktivität sorgt, da es in die Kontrollmechanismen des Ovars für die Uteruskontraktionen eingreift. Je mehr Muskelaktivität, desto mehr Mikroverletzungen entstehen und desto mehr Östrogen wird produziert – die Problematik verselbstständigt sich. Letztlich führt dies dazu, dass Mikrofragmente des Endometriums in den Bauchraum gelangen, welche sich dort einnisten können. Je mehr Fragmente sich dort ansiedeln, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Endometriose entsteht. Woher die erhöhte Muskelaktivität kommt, ist nicht ganz klar. Mutmaßlich gibt es einen Vorfall kurz nach Beginn der Fruchtbarkeit, welcher der Auslöser hierfür sein könnte. Was genau das für ein Vorfall sein könnte, ist bisweilen noch ungeklärt.

Weder die Theorie zur retrograden Menstruation noch die Funktionseinschränkung der Immunzellen oder die erhöhte Muskelkontraktion erklärt jedoch das Vorkommen von Endometrioseherden in anderen Körperbereichen, zum Beispiel im Gehirn – hierzu gibt es Vermutungen, dass die Endometriose sich mithilfe des lymphatischen Systems im Körper verbreiten und zu weit entfernten Körpergebieten gelangen kann. [7] Tatsächlich ist das Vorkommen von Endometriose im Gehirn extrem selten, und es gibt nur wenige dokumentierte Fälle. Was deutlich häufiger vorkommt, sind psychische Beschwerden wie Depression und Angststörungen. Es hat sich herausgestellt, dass etwa ein Drittel der Betroffenen zusätzlich zur Endometriose an diesen Beschwerden leidet. Interessanterweise kann man Veränderungen im Gehirn bei diesen Personen mittels CT und MRT bildlich darstellen. Unklar ist bisweilen, ob das sogenannte Endometriose-Hirn durch die chronischen Schmerzen, unbeteiligte psychische Begleiterkrankungen oder die Endometriose selbst ausgelöst wird, sodass keine abschließende Aussage zu den Ursachen der Veränderungen getroffen werden kann. [8]

Wie entsteht retrograde Menstruation und wie lässt sie sich behandeln?

Leider wird zu dem Thema nur wenig geforscht, daher kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, wie die retrograde Menstruation entsteht. Es steht die Hypothese im Raum, dass eine abnormale Muskelkontraktion des Uterus eine Rolle spielen könnte. [11] Mutmaßlich weist die Kontraktion bei Endometriose eine höhere Frequenz und Spannung auf, jedoch ist die momentane Datenlage dünn. Aktuell lässt sich daher weder die Ursache der retrograden Menstruation bestimmen, noch gibt es Therapien dagegen.

Fazit

Klar ist, dass die retrograde Menstruation als Erklärung für die Entstehung von Endometriose nicht alleine stehen kann, da sie nicht erklärt, wieso sich bei manchen Personen eine Endometriose manifestiert und bei anderen nicht. Da die retrograde Menstruation grundsätzlich physiologisch bei Menstruierenden vorkommt und bei den meisten keine Probleme auslöst, kann es also nicht alleine daran liegen. Vielmehr bietet die Theorie einen Erklärungsansatz für die Krankheitsentstehung, allerdings nur in Kombination mit weiteren Faktoren wie genetischer Anfälligkeit und Veränderungen der Immunzellen. Was sich als Schlussfolgerung aus den verschiedenen Resultaten der zitierten Studien ergibt, ist, dass nicht mehr Menstruierende meistens eine Rückbildung der Endometriose erleben. Daher könnte es sein, dass eine Sterilisation Abhilfe schaffen kann – jedoch kann auch hier nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass diese Methode hundertprozentig hilft. Außerdem stellt dies für Personen mit einem Kinderwunsch natürlich keine Möglichkeit dar. Zu hoffen ist, dass sich die Forschung diesem Thema in Zukunft mehr widmet, sodass wir dir schon bald genauere Informationen hierzu liefern können.

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Referenzen

  1. Universitäts-Frauenklinik Tübingen. Definition der Endometriose. https://www.medizin.uni-tuebingen.de/de/das-klinikum/einrichtungen/kliniken/frauenklinik/endometriosezentrum#:~:text=Liegen%20bei%20Ihnen%20Beschwerden%20wie,jeden%20Fall%20bei%20uns%20vorstellen. Abgerufen am 28.11.2022
  2. Halme J, Hammond MG, Hulka JF, Raj SG, Talbert LM. Retrograde menstruation in healthy women and in patients with endometriosis. Obstet Gynecol. 1984 Aug;64(2):151-4. PMID: 6234483. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/6234483/. Abgerufen am 28.11.2022
  3. Vinatier D, Dufour P, Leroy JL. Mécanismes de l’endométriose [The mechanisms of endometriosis]. Rev Prat. 1999 Feb 1;49(3):254-7. French. PMID: 10189792. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/10189792/. Abgerufen am 28.11.2022
  4. Ushiwaka T, Yamamoto S, Yoshii C, Hashimoto S, Tsuzuki T, Taniguchi K, Izumiya C, Kobayashi H, Maeda N. Peritoneal natural killer cell chemotaxis is decreased in women with pelvic endometriosis. Am J Reprod Immunol. 2022 Sep;88(3):e13556. doi: 10.1111/aji.13556. Epub 2022 May 4. PMID: 35452561
  5. Endometriose-Vereinigung Deutschland e.V. Broschüre Begleiterkrankungen 2019. https://www.endometriose-vereinigung.de/files/endometriose/infomaterial/Broschuere%20Begleiterkrankungen%202019_web.pdf. Abgerufen am 28.11.2022
  6. Leyendecker G, Wildt L, Mall G. The pathophysiology of endometriosis and adenomyosis: tissue injury and repair. Arch Gynecol Obstet. 2009 Oct;280(4):529-38. doi: 10.1007/s00404-009-1191-0. Epub 2009 Jul 31. PMID: 19644696; PMCID: PMC2730449
  7. Jerman LF, Hey-Cunningham AJ. The role of the lymphatic system in endometriosis: a comprehensive review of the literature. Biol Reprod. 2015 Mar;92(3):64. doi: 10.1095/biolreprod.114.124313. Epub 2015 Jan 14. PMID: 25588508
  8. Maulitz, L., Stickeler, E., Stickel, S., Habel, U., Tchaikovski, S. N., & Chechko, N. (2022). Endometriosis, psychiatric comorbidities and neuroimaging: Estimating the odds of an endometriosis brain. Frontiers in Neuroendocrinology, 65, 100988. https://doi.org/10.1016/J.YFRNE.2022.100988
  9. Center for endometriosis care. Who is Sampson and what does he have to do with endometriosis. https://centerforendo.com/who-is-sampson-and-what-does-he-have-to-do-with-endometriosis. Abgerufen am 28.11.2022
  10. D’Hooghe TM, Bambra CS, Raeymaekers BM, De Jonge I, Lauweryns JM, Koninckx PR. Intrapelvic injection of menstrual endometrium causes endometriosis in baboons (Papio cynocephalus and Papio anubis). Am J Obstet Gynecol. 1995 Jul;173(1):125-34. doi: 10.1016/0002-9378(95)90180-9. PMID: 7631669
  11. Bulletti C, De Ziegler D, Polli V, Del Ferro E, Palini S, Flamigni C. Characteristics of uterine contractility during menses in women with mild to moderate endometriosis. Fertil Steril. 2002 Jun;77(6):1156-61. doi: 10.1016/s0015-0282(02)03087-x. PMID: 12057721

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Sharleen Omara
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