01.10.2024
Endometriose an den Beckennerven: Das kann die Neuropelveologie leisten
4 Min. Lesezeit
01.10.2024
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Die Neuropelveologie ist eine relativ neue Fachrichtung in der Medizin, die maßgeblich von Marc Possover mitentwickelt wurde. Sie beschäftigt sich mit krankhaften und krankmachenden Vorgängen (Pathologien) des Nervensystems oder einzelner Nerven im Beckenbereich [1]. In der Neuropelveologie werden Pathologien mithilfe verschiedener Verfahren diagnostiziert und behandelt [2]. Welche Methoden angewandt werden, hängt vom individuellen Krankheitsbild ab und sollte in der Regeln von der behandelnden Ärztin beziehungsweise dem behandelnden Arzt und der Patientin gemeinsam entschieden werden.
Die Neuropelveologie ist speziell bei Endometriose oder Adenomyose von Bedeutung, da diese in einigen Fällen das sehr komplexe Nervengeflecht im Beckenbereich betreffen können. Im Beckenbereich liegen außerdem die inneren Genitalorgane, die Blase, der Enddarm und auch viele Muskeln [3]. Das Nervengeflecht im Becken ist zudem wichtig für die Sexualfunktion, die Blasen- und auch die Darmkontrolle [4].
Die Neuropelveologie beschäftigt sich also mit Verletzungen und Fehlfunktionen der Beckennerven und der Therapie dieser. Speziell ausgebildete und geschulte Ärzt:innen, die Neuropelveolog:innen, können die richtigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen wählen und durchführen.
Wie schon erwähnt, können bei Endometriose oder Adenomyose auch Nerven im Beckenbereich betroffen sein [5,6]. In den meisten Fällen handelt es sich dabei entweder um den Plexus lumbosacralis, den Plexus sacralis (beides sind Nervengeflechte, die mit Spinalnerven verbunden sind, die aus dem Rückenmark entspringen) oder den Ischiasnerv (ein besonders dicker Nerv, der aus dem Beckenbereich kommt und bis in die Beine verläuft) [6]. Allerdings können auch andere Nerven oder Bereiche im Becken betroffen sein und es sollte immer im Einzelfall abgeklärt werden, ob und welche Nerven betroffen sind.
Vor allem bei einer Endometriose am Ischiasnerv kann es zu schwerwiegenden und einschränkenden Symptomen wie starken Schmerzen in den Beinen, im Gesäß oder im Rücken, Taubheitsgefühlen in den Beinen oder Füßen oder auch zu einer Bewegungseinschränkung der Beine oder Füße kommen [7]. Diese Symptome können oftmals auch mit einem Bandscheibenvorfall verwechselt werden. Sie unterscheiden sich hiervon jedoch vor allem dadurch, dass die Vorderseiten der Oberschenkel schmerzfrei bleiben [7].
Bei einer tiefen Endometriose an Nerven im Beckenbereich ist es besonders wichtig, diese möglichst frühzeitig zu diagnostizieren und zu behandeln. Diese Formen der Endometriose sollten nicht nur hormonell, sondern auch operativ behandelt werden, da ansonsten Schäden an den betroffenen Nerven entstehen können [7]. Unbehandelte Nervenschäden können häufig nicht mehr rückgängig gemacht werden.
In der Neuropelveologie werden verschiedenen Verfahren zur Diagnostik einer Endometriose eingesetzt. Zuallererst sollte immer eine ausführliche Anamnese (Patient:innenbefragung) durchgeführt werden, damit die Fachperson die Symptome richtig einschätzen und passende weitere Methoden zur Diagnostik auswählen kann.
Zu den eingesetzten diagnostischen Verfahren zählen die folgenden:
Neben der Diagnostik führen Neuropelveolog:innen auch Operationen durch, bei denen Endometriosegewebe im Beckenbereich bzw. an den Nerven chirurgisch entfernt wird. Auch diese Operationen finden in aller Regel per Bauchspiegelung, also minimalinvasiv, statt [7]. Vor allem wenn Nerven betroffen sind, ist es wichtig die Endometrioseherde so exakt wie möglich zu entfernen, um eine Beschädigung der Nerven zu verhindern.
Bei Endometriose im Beckenbereich geht es, insbesondere wenn Nerven betroffen sind, um sehr komplexe Operationen. Neuropelveolog:innen kennen sich mit diesen aus und sind in der Lage, die Operationen minimalinvasiv durchzuführen. Wie oben schon beschrieben, ist es wichtig insbesondere betroffene Nerven so vollständig wie möglich zu erhalten, um zum Beispiel Sexualfunktion, Blasen- und Darmkontrolle, oder auch die Bewegungsfähigkeit nicht oder nur so wenig wie möglich einzuschränken.
Auch wenn andere Operateur:innen über viel Wissen und Erfahrungen verfügen, haben Neuropelveolog:innen den Vorteil von hochspezialisiertem Wissen mit solcherlei Operationen, was einen entscheidenden Vorteil bei Operationserfolg und der Heilungsprognose machen kann. Viele, nicht hierauf spezialisierte Ärzt:innen sind zudem leider nach wie vor nicht ausreichend für die Erkennung und Therapie von (tiefer) Endometriose sensibilisiert. Auch in der medizinischen Ausbildung findet dieses Thema nur begrenzt Anerkennung. Daher ist es wichtig, dass du für die Diagnostik und Therapie nach Möglichkeit in ein Endometriose-Zentrum gehst. Auch außerhalb von Zentren gibt es Spezialist:innen, die sich mit Endometriose auskennen.
Die Neuropelveologie ist ein relativ neues Feld in der Medizin und die Suche nach Fachpersonen in diesem Fachbereich kann sich deshalb als schwierig erweisen. Es gibt jedoch einige Ärzt:innen, die Weiterbildungen zu diesem Thema gemacht haben und auf dem Gebiet spezialisiert sind. Ein Zertifikat der International Society of Neuropelveology (ISON) weist auf eine erfolgreiche Fortbildung auf diesem Spezialgebiet hin. Diese Ärzt:innen sind meist an spezialisierten Endometriosezentren zu finden.
Besonders die Klinik von Prof. Possover in Zürich (Schweiz), dem Begründer der Neuropelveologie, ist für komplexere Fälle mit Beteiligung der Nerven eine geeignete Anlaufstelle. Dabei handelt es sich jedoch um eine Privatklinik, die nicht für jede Person erreichbar und bezahlbar ist. Insgesamt gibt es leider momentan noch zu wenige neuropelveologische Angebote für den großen Bedarf.
Das komplexe Nervengeflecht im Becken erfordert besonders ausgebildete und geschulte Ärzt:innen. Die Suche nach einer geeigneten Fachperson auf dem Gebiet der Neuropelveologie kann sich jedoch schwierig gestalten. Der Aufwand und die Mühe sind es jedoch wert und wir möchten dich darin bestärken, dich nicht entmutigen zu lassen! Vielleicht bist du in Kontakt mit anderen Betroffenen oder hast Freund:innen oder Familienmitglieder, die dich bei der Suche unterstützen können?
Weitere Infos zu diesem Thema findest du auch im Interview mit Prof. Ibrahim Alkatout.
Quellennachweise
[1] Possover, M., Andersson, K. E., & Forman, A. (2017). Neuropelveology: an emerging discipline for the management of chronic pelvic pain. International Neurourology Journal, 21(4), 243.
[2] Possover M. Neuropelveology: An Emerging Discipline for the Management of Pelvic Neuropathies and Bladder Dysfunctions through to Spinal Cord Injury, Anti-Ageing and the Mars Mission. J Clin Med. 2020 Oct 13;9(10):3285. doi: 10.3390/jcm9103285. PMID: 33066247; PMCID: PMC7656309.
[3] Lemos N, D’Amico N, Marques R, Kamergorodsky G, Schor E, Girão MJBC. Recognition and treatment of endometriosis involving the sacral nerve roots. Int Urogynecol J. 2016;27(1):147–50.
[4] Dietrich-Bonhöffer-Klinikum (n.D.). Informationsblatt Neuropelveologie/Endometriose. Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. https://dbknb.de/gyn/leistungen/neuropelveologie-und-endometriose
[5] Usta, T., & Khazali, S.. (2022). Pelvic Nerve Endometriosis (Neuropelveology) (pp. 251–270).https://doi.org/10.1007/978-3-030-97236-3_21
[6] De Sousa ACS, Capek S, Amrami KK, Spinner RJ. Neural involvement in endometriosis: review of anatomic distribution and mechanisms. Clin Anat. 2015;28(8):1029–38.
[7] Possover, M. (2023, August). Endometriose des Ischiasnervs und der Sakralwurzeln: Diagnose und Behandlung im Rahmen der Neuropelveologie. https://blog.possover.com/de/neuropelveologie/endometriose-des-ischiasnervs-und-der-sakralwurzeln-diagnose-und-behandlung-im-rahmen-der-neuropelveologie
[8] Niro J, Fournier M, Oberlin C, Le Tohic A, Panel P. Endometriotic lesions of the lower troncu-lar nerves. Gynecol Obstet Fertil. 2014;42(10):702–5.
[9] Arányi Z, Polyák I, Tóth N, Vermes G, Göcsei Z. Ultrasonography of sciatic nerve endometrio-sis. Muscle Nerve. 2016;54(3):500–5.
[10] Endo-App (n.D.). Endometriose an den Beckennerven: Ein Interview mit Prof. Ibrahim Alkatout.
Medizinjournalist
Tom ist wissenschaftlicher Redakteur im Redaktionsteam der Endo Health GmbH. Als Global Health Experte und über Freund:innen und Bekannte wurde er auf die Themen Endometriose und Co. aufmerksam. Sein Ziel ist es, Betroffene aufzuklären und so ihre Lebensqualität zu erhöhen.