Wie Qigong bei chronischen Schmerzen und Erschöpfung helfen kann

Die multimodale Schmerztherapie zählt zu einer der wichtigsten und effektivsten Therapieformen bei Endometriose. Zu ihr zählen neben Physiotherapie oder Ernährungsberatung auch das Erlernen von Entspannungstechniken. Eine ganz besondere Art Entspannung zu erlangen, das Qigong, stellt dir hier einmal die Qigong-Lehrerin Anne Paul vor. 

Im Text erfährst du, was Qigong überhaupt ist, wie man es praktiziert und natürlich welchen Effekt es auf chronische Schmerzen und Erschöpfung haben kann.

Drei Personen praktizieren Qi Gong.

Was ist Qigong?

Zunächst kurz zum theoretischen Verständnis: Qigong bedeutet wörtlich Pflege, Kultivierung (Gong) der Lebensenergie (Qi). Es ist eine jahrtausendealte Selbstheilungskunst und Teil der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). 

Im Qigong geht es darum, sich krankmachende und schmerzende Energieblockaden in unserem Inneren bewusst zu machen, sie nach und nach zu lösen und die Lebensenergie (Qi) wieder ins Fließen zu bringen. Mit den Qigong-Übungen wird neben der körperlichen auch die emotionale und die mentale Ebene angesprochen und ins Gleichgewicht gebracht. 

Die gute Nachricht – und wichtigste Grundlage des Qigong aus meiner Sicht – vorneweg: Lebensenergie ist in uns und um uns herum immer in Fülle vorhanden – auch wenn wir uns müde, erschöpft und krank fühlen mögen. Wenn die Lebenskraft auch verschüttet oder blockiert sein mag, sie ist nicht verloren! Diese Sichtweise allein kann schon eine entscheidende Weichenstellung hin zu Zuversicht, Besserung und Regeneration sein. 

Gemäß der TCM wird unsere Lebenskraft immer wieder durch äußere oder innere Einflüsse blockiert. Kurze Stauungen sind dabei ganz normal – wenn dies jedoch dauerhaft über Monate und Jahre passiert, entstehen, laut der TCM, Schmerzen und schließlich Krankheiten.  

Verschiedene Formen des Qigong

Über die lange Geschichte des Qigong haben sich viele verschiedene Richtungen und Übungsformen entwickelt. Bei der Mehrzahl der Qigong-Formen liegt der Schwerpunkt darauf, das innere Qi mit körperlichen Bewegungen auf den Energieleitbahnen im Körper (sogenannten Meridianen) zum Fließen zu bringen und damit körperliche Blockaden zu lösen.

Bei diesen Formen des Qigong ist es sinnvoll, sich in Präsenz zu treffen und die genaue Körperhaltung von einem/r Lehrer:in zu lernen. „Stilles Qigong“ besteht dagegen hauptsächlich aus Atem-, Tön- und Visualisierungsübungen. Die optionalen sanften Bewegungen unterstützen den Atemfluss und die inneren Bilder der Verwurzelung und Öffnung.

Die Betonung liegt hier auf dem Austausch mit der Lebenskraft um uns herum, mit der wir uns verbinden können und die – gerade bei langwierigen Erkrankungen – zur inneren Erneuerung und Regeneration genutzt werden kann.  

Diese sehr meditativen Übungen des Qigong sind überaus hilfreich, das vegetative Nervensystem zu beruhigen und Zugang zu einem inneren Raum der Annahme und Weite zu bekommen. Sie können besonders gut im Sitzen oder auch im Liegen praktiziert werden und ohne Abstriche auch online vermittelt werden. 

Der 1. Schritt im Qigong: die Akzeptanz

Qigong ist ein Weg, die verschiedenen Formen von Lebensenergie in und um uns wieder zu spüren und sich ihrem Fluss zu öffnen. Gerade die blockierten, schmerzenden Stellen können uns dabei den Weg weisen.  

Dabei gehen wir in einer Qigong-Übungsstunde in zwei Schritten vor. 

In einem ersten Schritt – der Akzeptanz – nehmen wir alle auftretenden Körperempfindungen wahr, insbesondere die verspannten, unangenehmen. Wir üben, uns mithilfe des langen Ausatmens dort „hineinzuentspannen“. Hilfreich kann dabei der Gedanke sein, dass wir im geschützten Rahmen einer Qigong-Einheit nichts leisten müssen, nichts an und in uns ändern müssen. Dass zumindest für diesen Moment alles da sein darf, was ja sowieso schon Realität in uns ist. 

Dieses Annehmen von allem, was in diesem Moment ist, mag bei körperlichen wie auch bei emotionalen Schmerzen besonders herausfordernd sein. Unser Geist wehrt sich verständlicherweise gegen die unangenehmen Empfindungen, die zuweilen schwer auszuhalten sein mögen.  Auch diesen eventuellen Widerstand gegen die Schmerzen schließen wir in unsere Akzeptanz mit ein.  Viele von uns machen dann die Erfahrung, dass schon allein dadurch, dass alles sein darf, wie es ist, eine deutliche Entspannung und Erleichterung spürbar werden kann.  

Eine weitere Hilfe ist, dass sich durch die wiederholte Konzentration auf den Atem und den Körper die körperlichen Empfindungen nach und nach von den damit verbundenen Gedanken, Bewertungen und Sorgen lösen. Diese Gedankenkreise sind häufig eine Hauptursache, dass sich Schmerzen und Unwohlsein über die ursprüngliche Empfindung hinaus verstärken. Das Unterbrechen dieser mentalen Negativspirale ist eine wichtige Funktion der Übungen und führt häufig zu einem zunehmenden Gefühl von Entspannung, Selbstwirksamkeit und Zuversicht. 

Der 2. Schritt im Qigong: die Aktivierung

Die sanften Bewegungen des Qigong, Tiefenatmung und Visualisierungen unterstützen dann das Qi dabei, die Blockaden mehr und mehr zu lösen, wieder frei zu fließen und unseren Körper wie auch unseren Geist zu entspannen.  

Hierfür kreisen und öffnen wir zunächst die Gelenke und atmen tief in die engen, schmerzenden Stellen unseres Körpers hinein. Die sanften körperlichen Bewegungen bieten einen Anker, sich trotz oder mit den unangenehmen Empfindungen zu entspannen, sanft zu dehnen und an blockierten Stellen wieder etwas durchlässiger zu werden. Dies kann in jeder Position – im Stehen, wie auch im Sitzen oder Liegen geübt werden. Entscheidend ist bei dieser Form von Qigong nicht die Größe der Bewegung, sondern die energetische Öffnung, hauptsächlich durch unseren Geist. 

Eine wichtige Rolle spielt im Qigong unsere Vorstellungskraft. Wir verbinden uns deshalb zu Beginn jeder Stunde so gesehen mit der Lebensenergie um uns herum, zunächst über die Fußsohlen, mit der nährenden Kraft der Erde unter uns. Dann dehnen wir uns mit dem Scheitelpunkt in Richtung Himmel und öffnen uns der großen Weite über uns. Schließlich wecken wir die Vorstellung, dass wir in einem Meer von Lebenskraft stehen, sitzen oder liegen. Dass um uns herum das Leben pulsiert und wir mit jedem Atemzug und durch jede Pore daran teilhaben können. 

Wichtig ist, dass all diese Vorstellungen spielerisch gesehen werden, es gibt kein Richtig oder Falsch, sondern ein Erforschen und Entdecken. Häufig stellt sich durch diese Bilder ein Gefühl von tiefer innerer Entspannung und Weite ein, was das Schmerzempfinden dämpft und abmildert. Dass mentale Bilder und Vorstellungen Auswirkungen auf den Körper haben, ist eine uralte menschliche Erfahrung und mittlerweile sogar wissenschaftlich bewiesen. 

Die modernen Neurowissenschaften erhellen mit dem Begriff Neuroplastizität, warum im Qigong die Visualisierungen in unserem Geist so entscheidend sind. Im Qigong, wie ich es verstehe und praktiziere, sind die äußeren Bewegungen hilfreich, aber letztlich zweitrangig. Zentral ist, ob und wie unser Geist den Qi-Fluss, den Fluss der Lebensenergie, begleitet  – „Where the mind goes, the Chi flows.“ – Die Aufmerksamkeit lenkt das Qi.  Mithilfe von inneren Bildern lenken wir also die Aufmerksamkeit hin zu mehr Öffnung gegenüber der allumfassenden Lebensenergie. Je häufiger wir dies tun, desto mehr speichern unsere Gehirnzellen und damit unser Körpergedächtnis diese Erfahrung ab, was eine Stärkung von Körper, Psyche und Geist zur Folge hat.  

Gut zu wissen!

Die Neuroplastizität ist die Fähigkeit unserer Nervenzellen, sich jederzeit sowohl anatomisch als auch funktionell zu regenerieren. Psychoneurologische Gehirnretraining-Programme, die gerade bei chronischen Erkrankungen wie ME/CFS u.a. gute Erfolge vorweisen, machen sich diese Fähigkeit ebenfalls zunutze. 

Wir machen uns das weiter zunutze, wenn wir dann frischen Sauerstoff und frisches Qi in die schmerzenden Körperstellen hineinschicken. Häufig werden die betroffenen Stellen wärmer, besser durchblutet, der Schmerz verändert sich und wird nicht selten schwächer oder verschwindet zunächst kurzzeitig sogar ganz.  

Natürlich ist Qigong keine Wunderpille und zuweilen dauert es Wochen, bis Verbesserungen auch wirklich dauerhaft spürbar werden und bleiben. Manchmal wird ein Schmerz zu Beginn der Übungen auch scheinbar stärker. Dies mag daran liegen, dass er bewusster wird, oder auch, dass das Qi durch die Übungen ungehinderter zu der schmerzenden Stelle fließt.  

Unmittelbar nach einer Qigong-Einheit (von ca. 45 Minuten) berichten jedoch die allermeisten Teilnehmer: innen von einer Abmilderung der Schmerzen und Symptome, von innerer Entspannung und einem angenehmen Weitegefühl.  

Um dies wirklich dauerhaft zu stabilisieren, braucht es ähnlich wie beim Erlernen eines Musikinstruments geduldige Übung. Gerade weil die Bewegungen so sanft und schonend sind, ist der Schlüssel zu den „Früchten des Qigong“ die häufige, anfangs am besten tägliche Wiederholung.  

Die 6 Heilenden Laute oder: Qigong und der Vagusnerv

Besonders gut geeignet zur Entspannung des vegetativen Nervensystems sind die „6 Heilenden Laute“, die nach der Traditionellen Chinesischen Medizin eng mit den wichtigsten inneren Organen verbunden sind und die man zudem wunderbar im Liegen praktizieren kann.

Dafür legen wir die Hände auf verschiedene Körperstellen: nacheinander auf die Lunge, Nieren, Leber, Herz und Milz/Verdauungsorgane. Wir atmen tief frischen Sauerstoff dort hinein und tönen dann nacheinander die jeweiligen Laute, so lang oder kurz, laut oder leise, wie es sich für uns gerade richtig anfühlt. Es kann auch ein Summen sein. Mit der möglichst entspannten, langen Ausatmung schicken wir die Vibrationen des Tons in die jeweiligen Organsysteme, massieren dadurch quasi die Gewebe und Zellen von innen.

Bei entsprechender Wiederholung der Heilenden Laute kommt der Körper in einen tiefen Entspannungszustand. Körperliche Verspannungen und Schmerzen lösen sich oder werden milder, und emotionaler wie auch mentaler Stress kann sich legen. 

Eine wissenschaftliche Erklärung für diese besondere Wirkung der Töne mag Folgendes sein: Durch Qigong wird in besonderer Weise der Vagusnerv angesprochen. Das ist der Hauptnerv des parasympathischen Nervensystems – welcher Entzündungsprozesse stoppt, Stresshormone bremst, die Entgiftung anregt und für unsere Regeneration und letztlich Selbstheilung sorgen kann.

Er verläuft u.a. entlang der Stimmbänder und Atmungsorgane. Dies erklärt, warum das Tönen der „6 Heilenden Laute des Qigong“ nicht nur, aber vor allem auch von chronisch Erkrankten als überaus wohltuend und stärkend empfunden wird. Das oft überreizte vegetative Nervensystem kommt zur Ruhe, Regenerations- und Reparaturvorgänge stellen sich ein. 

Kurz und knapp

Qigong ist, wie der Name sagt, eine „Arbeit mit der Lebensenergie“, eine konkrete Selbstfürsorge, die von der praktischen Anwendung lebt. Deshalb sind einem theoretischen Text wie diesem, enge Grenzen gesetzt. Wenn dich irgendetwas in dieser Beschreibung anspricht, ermuntere ich dich, es selbst auszuprobieren.

Denn Qigong kann zu einem kostbaren Werkzeug für unsere körperliche, psychische und geistige Kraft werden und wir können unserem inneren, ursprünglichen Zustand von Entspannung, Schmerzfreiheit und Lebensfreude wieder näherkommen. Viel Erfolg auf deinem Weg! 

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Referenzen

  1. Bhasin MK, Dusek JA, Chang BH, Joseph MG, Denninger JW, Fricchione GL, Libermann TA. Relaxation response induces temporal transcriptome changes in energy metabolism, insulin secretion and inflammatory pathways. PLoS One. 2013;8(5), e62817. doi:10.1371/journal.pone.0062817
  2. Johnson AJ, Kekecs Z, Roberts RL, Gavin R, Brown K, Elkins GR. Feasibility of Music and Hypnotic Suggestion to Manage Chronic Pain. International Journal of Clinical and Experimental Hypnosis. 2017;65(4):452-465. doi:10.1080/00207144.2017.1348858
  3. Mikolasek M, Berg J, Witt CM, Barth J. Effectiveness of Mindfulness- and Relaxation-Based eHealth Interventions for Patients with Medical Conditions: a Systematic Review and Synthesis. International Journal of Behavioral Medicine. 2018;25(1):1-16. doi:10.1007/s12529-017-9679-7

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Anne Paul